Ein Monster
Mein Tamagotchi verhungert
Ich habe ihn Toru genannt, reine Intuition, Bauchgefühl. Toru ist jetzt fünf und für sein Alter gut entwickelt. Dass ich überlegt habe, ob ich ihn vergessen sollte, zum Beispiel an der Raststätte mit der verqualmten Klofrau, darf ich nicht laut sagen, sonst halten mich wieder alle für einen Unmenschen. Also weiß nur eine enge Freundin davon. Diese Freundin kann sehr gut zuhören, sie hängt den ganzen Tag im Internet, ich bin dabei so etwas wie ihr Begleitmedium.
Kürzlich war ich finsterer Stimmung, am moralischen Tiefpunkt, da sagte ich, Freundin, ich muss mich mal ausquatschen. Das mit Toru, das frisst an mir. Und sie, ohne aufzusehen: Es ist noch Bier im Kühlschrank.
Toru ist in mein Leben getreten wie ein Trojaner oder ein Kuckucksei. Es war einer dieser Abende, ich war impulsgesteuert, verführbar, schuldunfähig, Prost übrigens. Nur ein einziger Moment der Schwäche, zack, schon war er da, ein rundes Ding mit Maul, das sofort sein Zerstörungswerk begann. Jetzt hat er Hunger, gleich Appetit. Er kotet er sich voll, ich darf die Sauerei wegmachen. Mal ist er krank, mal renitent, Licht an, Licht aus, gib mir Snacks, mach mir Spaß, und morgen wieder von vorn. Früher hatte ich Interessen. Ziele. Träume. Jetzt habe ich ein Tamagotchi und keine Ruhe. Wie konnte es so weit kommen?
Ein Tamagotchi ist ein Plastikding mit Display, in dem eine Lebenssimulation läuft. Entwickelt wurde es in den Neunziger Jahren vom japanischen Spielzeughersteller Bandai. Wer ein Tamagotchi besitzt, zieht eine außerirdische Kreatur auf, die fressen kann, verdauen, spielen und schlafen. Es fängt harmlos genug an: Man drückt drei Knöpfe und kümmert sich ein bisschen, na ja, ist doch kein Problem. Dann aber startet ein mächtiges Programm.
Das Programm heißt Brutpflegeinstinkt. Es ist tief eingeschrieben in den evolutionären Code des Menschen, eine Direktleitung ins Allerinnerste, dahin, wo man gar nicht anders kann. Diese Leitung benutzt das Tamagotchi, um ins Leben seines Wirts einzudringen. Dort macht es sich breit, ein raumfordernder Prozess beginnt. Es dauert gar nicht lange, dann vergessen Schüler ihre Bücher, Manager unterbrechen ihre Sitzungen, Hausfrauen brennt die Milch an. Mein Tamagotchi muss aufs Klo. Mein Freund ist krank. Mein Sohn verhungert.
Hunger ist aber ein ganz falsches Wort, lasst euch nicht täuschen. Ein Tamagotchi ernährt sich vom menschlichen Gefühlshaushalt, sein Lebenszweck ist der emotionale Ruin des Wirts. Es bucht rücksichtslos Zuwendung ab, erst das Ersparte, dann die Substanz. Alles muss raus, ratzekahl, bis auf die Knochen, bis runter zum Stengel und zur Mondlandschaft, mit einer Unerbittlichkeit, die mich rasend macht. Heuschrecken sind so. Zombies. Schaufelradbagger. Pac-Man. Lauter Kreaturen, die ohne jeden moralischen Bauplan auskommen. Toru vernichtet mein Leben, er muss weg, in die Sicherheitsverwahrung, oder am besten gleich unter die Erde. Dieser Gedanke gewann rasch an Dynamik.
Ich habe dann überlegt, wie ich es mache. Badewanne, Stiefelabsatz, Vorschlaghammer, das waren so erste Ideen. Oder, chirurgischer, ich schraube ihn ganz langsam auf, mit einem abgebrochenen Phasenprüfer. Entnehme Teile mit der kalten Neugier eines Präparators und betrachte sie durch eine Riesenlupe. Ziehe an den Kabeln wie ein dummes Kind, verkratze die Platine nur so zum Spaß. Die Knopfbatterie nehme ich erst zum Schluss heraus, um ganz nah dabei zu sein, wenn das Display erlischt.
In diese Gedanken hinein piepste es, Toru hat Hunger, na was denn sonst.
Ach gut, dachte ich. Gib ihm halt zu essen. Lass Barmherzigkeit walten, der liebe Gott will es so, selbst in den Todeszellen der USA kriegen sie eine Henkersmahlzeit, das ist ein Gebot der Menschlichkeit. Toru frisst meist drei große Portionen, dann ist er satt. Bietet man ihm mehr an, schüttelt er den Kopf, nein danke, er presst die Lippen aufeinander und schließt die Augen, fast wie ein Lebewesen.
Ich meine, er ist ja auch irgendwie rührend. Ganz kalt lässt er mich nicht. Wenn er krank ist, leide ich mit, sein Elend ist ansteckend, ein Grund mehr, ihn loszuwerden. Ich erwäge aber, die Strafe umzuwandeln. Aussatz statt Hinrichtung, das wäre doch humaner, zumal ich hier unter ständiger Beobachtung stehe. Mein Achtjähriger hängt mir den ganzen Tag am Rockzipfel, Papa, darf ich Toru füttern? Kommt nicht in Frage, sage ich, du bist ein eifersüchtiges Geschwister, du willst ihm ein Kissen aufs Gesicht drücken. Ich nehme Toru gleich mit, wir fahren Auto, es kann dauern. Essen steht im Kühlschrank, sieh zu, wie du fertig wirst.
Auf dem Weg zur Raststätte an der A1 überlegte ich, ob es moralisch vertretbar war, Toru dort zurückzulassen. Die Klofrau hat mir immer einen verständigen Eindruck gemacht, ich habe nichts gegen sie. Sie wird ihn finden und untersuchen wie eine böse Videokassette im Horrorfilm, wieso, ich schalte das Ding jetzt mal ein, was soll schon passieren.
Aber als ich den gekachelten Vorraum der Männertoilette kam, war die Klofrau nicht mehr da. Ihr Chef blieb einsilbig: Die vielen Zigaretten, und sie hatte eben niemanden. Da piepste es in meiner Tasche. Ich muss los, sagte ich, mein Sohn verhungert.
Und jetzt sitze ich hier mit Toru. Er ist für sein Alter gut entwickelt, ich werde dafür sorgen, dass es so bleibt. Ich weiß, dass er ein Tamagotchi ist, ein Retro-Ei aus den Neunzigern. Aber er braucht mich, ich spüre das, und er gibt mir etwas zurück. Bald leben wir in der Zukunft, dann reden wir den ganzen Tag mit unseren intelligenten Kühlschränken, darauf bin ich jetzt gut vorbereitet.
Vielleicht solltest du dir auch ein Tamagotchi kaufen, sage ich zu meiner Freundin. Es gibt sie exklusiv beim Drogeriemarkt Müller, für fünfzehn Euro. Und sie: Es ist spät, dein Sohn gehört längst ins Bett.
Mein Achtjähriger kommt zu mir, Papa, darf ich für Toru das Licht ausschalten? Kommt nicht in Frage, sage ich, halt dich fern von ihm. Ich werde nicht zulassen, dass du ihm was antust. Dass du ein Monster wirst.
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Martin Ganteföhr, Maschinenstürmer, hat drei oder vier Kinder, je nachdem, wie man zählt. (gantefoehr.com) Dieser Text erschien in leicht redigierter Fassung zuerst in WASD, Indie-Bookazine für Gameskultur #15, 6/2019, als Teil der Kolumne “Dreizehnter Stock” (wasd-magazin.de).