Es könnte schlimmer sein

Martin Ganteföhr
3 min readAug 9, 2020

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Ich muss weg von den Dystopien

Little Hope Island, Nova Scotia, Kanada. (Image: sadtopographies)

Ich muss weg von den Dystopien. Ich muss das jetzt loslassen.

Seit zwanzig Jahren sitze ich in einem selbstgebastelten interaktiven Metaversum, das ich mit Technofaschisten, Geheimdienstlern und Psychowracks bevölkert habe. Oft geht es um Verschwörungen, um finstere Apparate und Machenschaften. In diesen unerfreulichen Welten laufen meine Figuren herum. Alle sind Alkoholiker. Sie suchen nach Auswegen, aber es gibt keine. Sie können es nur falsch machen. Also verzweifeln sie, an der Situation und aneinander.

Eine Dystopie ist eine Zukunftsgeschichte, die schlecht ausgeht. Genau mein Programm. Natürlich ahnt jeder, dass es auf Dauer nicht gesund ist, so etwas zu schreiben. Aber daran denkt ein Betroffener nicht. Er denkt: Ach wo, es könnte schlimmer sein. Immerhin entwerfe ich keine Zombieapokalypsen.

Meine Partnerin hat mich lange gewarnt. Du machst dich selber fertig. Schau doch in den Spiegel. Frag mal deine Kinder. Ich finde, ich sehe genauso aus wie immer, aber na gut, ich habe mit meinen Söhnen gesprochen. Jungs, wie seht Ihr mich? Schreibt es auf.

Jetzt gibt es ein Diagramm an unserer Küchentafel. Die Kinder haben es folgendermaßen beschriftet: Papa. Schlecht gelaunt, 70 Prozent. Nachdenklich, 25 Prozent. Im ersten Impuls wollte ich nachfragen: Was ist mit den fehlenden fünf Prozent? Aber dann dachte ich, ach komm, lass stecken. Ich bin sowieso schon mies drauf.

Als Dystopist bin ich immer mies drauf. Für mein Umfeld ist das eine Zumutung. Alle sind sich einig, dass ich selbst schuld bin. Jeden Tag die Leier von der Vergeblichkeit, da muss man ja gemütskrank werden. Ich finde, das ist zu einfach gedacht. Vielleicht sind die Dystopien gar nicht die Ursache für meine Schwermut, sondern nur ihr Symptom? Ich wäre dann krank, es würde mich entlasten. Da würde ich mich gleich besser fühlen.

Also habe ich nachgeforscht, und siehe da: Alle meine Helden sind Psychowracks. Orwell litt unter Depressionen. Philip K. Dick hatte wochenlange Episoden, er nahm auch Medikamente. Selbst Terry Gilliam hat es immer wieder erwischt. Und Kafka? Den nehme ich ungeprüft mit dazu.

Schön, sagte meine Partnerin. Bist du eben depressiv, meinetwegen. Glaubst du etwa, davon wirst du zu Orwell oder Kafka? Ich werde dir sagen, was dich krank macht: dein eigenes Scheitern.

Das kam hart rein, zugegeben. Denn es stimmt, jedenfalls im Kern. Ich bin am Ende mit meinen Dystopien. Es gibt nichts zu beschönigen: sie sind, wie sie sind, besser kann ich es eben nicht. Und doch, irgendwie ging es immer weiter. Jetzt aber nicht mehr.

Denn jetzt genügt es, Facebook zu öffnen, oder die eigene Haustür. Schon ist man bedient. Der Präsident ist ein Nazitroll, Bullshit ersetzt Fakten, Pandemie, Lockdown, Mundschutz, Verzweiflung, und kein Ende in Sicht. Alter, mach bloß wieder zu.

Die Welt ist zur dystopischen Fanfiction geworden. Ein Sammelsurium von Untergangserzählungen, arrangiert mit der Brechstange. Nichts ist logisch, geschweige denn notwendig. Es kommt einfach immer noch dicker, ohne inneren Grund. In den Social Media machen die Leute ihre Witze darüber: Wer verzapft solchen depressiven Mist?

Meine Partnerin sagte, sie wüsste da jemanden. Christian Schiffer schrieb mir, er fühle sich seit dem Lockdown wie in einem Ganteföhr-Spiel. Einen Kommentar von meinen Söhnen habe ich dann gar nicht mehr eingeholt. Der Groschen war schon gefallen. Ich bin aber nicht mies drauf deswegen. Ich bin erleichtert.

Der Bedarf an Dystopie ist weltweit gedeckt. Die Versorgung mit Depressionen ist gesichert. Ich kann mich jetzt anderen Dingen zuwenden. Fünf Prozent sind noch frei in meinem Diagramm. Das klingt nach wenig, aber es ist ein Anfang.

Martin Ganteföhr, Interactive Writer & Designer, ist Spezialist für Vergeblichkeit. (gantefoehr.com) Dieser Text erschien in leicht redigierter Fassung zuerst in WASD, Indie-Bookazine für Gameskultur #17, 7/2020, als Teil der Kolumne “Dreizehnter Stock” (wasd-magazin.de).

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Martin Ganteföhr

Martin Ganteföhr ist seit zwei Jahrzehnten als Designer, Autor und Dozent für interaktive Medien tätig. Er ist Professor der HBK Essen. (gantefoehr.com)