XY ungelöscht
Ich habe mein Smartphone verloren
Mein Handy war weg. Als ich nach Hause kam, mitten in der Nacht, total von der Rolle, rief ich es zehnmal an, drehte die Wohnung auf links, beschimpfte meine Partnerin und weckte das halbe Haus. Dann fiel ich mit Filmriss ins Bett, abwärts in eine Traumwelt.
Der Traum war eine Art Vorhölle. In meiner Wohnung türmte sich Elektronikschrott. Das ignorierte ich, denn ich musste dringend das letzte Erinnerungsabbild meines Handys aufrufen und die Nachrichten durchgehen. Ich war auf der Suche nach Dingen, die ich zu verbergen habe.
Es kommt einiges zusammen. Fehltritte, Lügen, Zahnersatz. Dann die vielen Peinlichkeiten und bahnbrechenden Geschäftsideen: Ich bin der Erfinder der Möbel aus Riesen-Lego. Ich habe eine Waschmaschine mit Tragegriffen entworfen. Die Küchenschränke mit Spülfunktion sind auch von mir, wusstet Ihr das? Man kann es in meinen Nachrichten lesen. Sicher steht da auch, wo ich gestern war. Wenn jemand mein Smartphone findet, kommt das alles raus.
Während ich mein Gedächtnis durchscrollte, stellte ich mir die Finder meines Handys vor. Vor der Kamera erschienen die Nasen fremder Leute, in Weitwinkel. Finger wischten in meiner Intimsphäre herum.
Bei den Kiddies und Junkies mache ich mir überhaupt keine Sorgen, die resetten das Gerät und verchecken es auf einem Klo — schwamm drüber. Die Hausfrauen und kleinen Angestellten nehmen sich vor, es morgen beim Fundbüro abzugeben, vergessen es aber in ihrer Kramschublade — geschenkt.
Ich fürchte mich vor den Netztrollen und Videogamern. Für sie ist ein Handy ein Fahndungsspiel aus dem Genre der Lost Phones, XY ungelöscht. Sie knacken die Bildschirmsperre, lesen die Nachrichten, schnüffeln in meinen Fotos und übernehmen meine Social Media Accounts. Dass ich keine fiktionale Figur bin, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, macht es höchstens interessanter. Achievement unlocked, Doxxing auf 8Chan.
Da fand ich in meinem Gedächtnis eine meiner Nachrichten. Gott sei Dank. Es war ein Foto aus der Halle meines Heimatflughafens. Ich glich den Zeitstempel mit dem Flugplan ab, in Frage kam nur Accra, die Hauptstadt von Ghana. Das fand ich nicht ungewöhnlich. Als Narrative Designer bin ich geübt im Erkennen solcher Hinweise, die erzählte Figur hat Filmriss, na so was, sie war am Flughafen, aha, und vermutlich in Ghana. Das ist eine Spur.
Ich stand auf und packte. Zahnbürste, Kreditkarte, Unterhose. Ein Buch nahm ich auch mit, was will man schon machen ohne Smartphone.
Meine Partnerin saß in der Küche, inmitten von Elektronikbergen. Sie heulte. Ich muss zum Flughafen, sagte ich, mein Handy suchen. Mein Sohn kam ins Zimmer und streckte mir ein Telefon entgegen, er wollte nur helfen, er ist eben noch klein. Nein, Sohnemann, das ist mein altes Handy, es ist kaputt, ich habe es dir zum Spielen gegeben. Er hatte aber den Akku geladen, und es mit irgendeiner kindlichen Brute-force-Methode geschafft, auf die Verzeichnisse zuzugreifen. Alles war noch da.
Wer ist das, fragte mein Sohn, und zeigte auf eins der Fotos. Meine Partnerin sah nicht einmal auf. Das habe ich wohl vergessen zu löschen, sagte ich.
Ich fuhr zum Flughafen. Dort war mein Handy nicht, also stieg ich in ein Flugzeug nach Accra.
In den sechzehn Reihen vor meinem Platz saßen Fremde, die in Smartphones herumwischten. Bei jedem Gerät argwöhnte ich, dass es meins war. Und bei jedem, das nicht meins war, befürchtete ich, dass der Besitzer gerade auf 8Chan in meinem Leben las.
Ich fand meinen Sitz und schlug mein Buch auf.
Bei dem Buch handelte es sich um die gedruckte Sammlung von neunhundert SMS aus dem Handy einer jungen Frau. Sie hieß Jule, und ihre Kurznachrichten summierten sich zu einer “Liebesgeschichte in 52 Akten”.
Jeder, der ein Handy hat, versteht das Format sofort. Mühelos erkennt man auch das Figurenpersonal: den untreuen Freund, den notgeilen Ex, die besorgte Freundin, den Verpasste-Anrufe-Bot. Alles klingt absolut authentisch, und das ist kein Wunder, denn Jules SMS wurden auf einem Handy entdeckt, das der Verleger auf ebay gekauft hatte. Jule gibt es wirklich. Sie heißt nur anders.
Wir landeten in Accra. Es war heiß. Ich ging zum Taxistand, entschuldigen Sie, ich habe mein Handy verloren. Der Fahrer nickte, und wir fuhren los.
Im Nordwesten der Stadt hielten wir an einer Müllkippe. Elektronikschrott türmte sich bis zur Lagune. Es waren Berge von Platinen und Kabeln, Millionen von Handys, überall brannten Feuer, toxischer Qualm stieg auf. In dieser apokalyptischen Landschaft stapften Menschen herum, viele von ihnen Kinder. Sie zündeten den Schrott an, um die Rohstoffe zu gewinnen, Kupfer, Aluminium, Eisen, in kümmerlichen Mengen. Sodom, sagte der Fahrer, denn so nannten die Bewohner diesen Ort. Da ist dein Handy.
Jetzt, endlich, fiel mir alles wieder ein.
Vorgestern hatte ich eine meiner bahnbrechenden Geschäftsideen. Ich kaufe diesen Schrott, tonnenweise, und hole ihn in meine Wohnung. Das Kupfer interessiert mich nicht, mein Rohstoff sind die Daten, und die Geschichten, die sie erzählen. Ich lese die Speicher aus, anonymisiere die Inhalte, und veröffentliche sie: als Lost-Phone-Games, als Literatur, als Kunstprojekt, oder gleich als UNESCO Weltkulturerbe. Ich muss nie mehr arbeiten.
Irgendwann ist auch mein eigenes Handy dabei. Na und? Man soll sich nicht so wichtig nehmen, zumal als Millionär. Ich kaufe 8Chan und spende für Ghana, alles ist perfekt.
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Martin Ganteföhr ist Interactive Writer und Designer in der Post-Privacy-Gesellschaft (gantefoehr.com). Dieser Text erschien leicht redigiert zuerst in WASD, Indie-Bookazine für Gameskultur #16, 1/2020, als Teil der Kolumne “Dreizehnter Stock” (wasd-magazin.de).
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